Alters-Einsamkeit

leere Bank im winterlichen Garten

Dieser Artikel ist angeregt durch eine Arbeit unserer ehemalige Pfarrerin Christin Neugeborn, Emmaus Gemeinde Bieber und u.a. eine Hommage an sie, auch wenn ich viele christlichen Antworten auf Fragen nicht teile.
Glauben und seine Deutungen beruhen auf Nicht-Wissen und menschlichen Erklärungsversuchen zu etwas, was letztlich nicht zu ergründen ist.
Darüber, welcher Ansichten wir sind, ist immer zu bedenken, was der Philosoph Ludwig Wittgenstein feststelle: „Woran wir glauben, hängt von dem ab, was wir lernen“; was wir allerdings lernen hängt von der Zeit und der Gegend, in die wir geboren wurden, von unseren Beziehungen, Traditions- und Sprachgemeinschaft ab.


Gerade noch wurde allenthalben „frohe Weihnachten“ gewünscht. Freude, ja echte Begeisterung und Gemeinschaftserleben sind derzeit allerdings eher bei Fußballfans, denn in Familien oder Kirchen zu erleben, selbst zur umstrittenen Winter-Weltmeisterschaft in Katar.
Die Beachtung der Weihnachtsbotschaft, die Erinnerung an ein Zusammenstehen, die Freude über das Wiedererwachen der Natur, geht im Konsum immer mehr verloren, ebenso wie verbindende soziale Kontakte und pflegende oder begleitende Kräfte in unserer Gesellschaft nur formal zu den systemrelevanten Gruppen gezählt werden.

Bei uns in Biebertal gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich in Beziehungen zu verwirklichen, sei es über den langjährig etablieren Geragogen, über 50er Vereinigungen, Vereine, Dorfcafé-Angebote, Seniorenkreise, die Sozialstation, den Einkaufsbus, die Tagespflege, Pflegeheime und Pflegedienste der Nähe, wie Bunte Hummeln, die Diakoniestation Biebertal oder Hilfe rund um Pflegegrade etc. durch die Pflegeberatung Mittelhessen und viele mehr.
Und dennoch ist auch bei uns das Thema der Alten und Einsamen nicht von der Hand zu weisen.

95jährige Hände

In Deutschland fühlt sich jeder 5. über 85 Jahre alte Mensch und jeder 7. zwischen 45 – 65 Jahren einsam.
Einsam meint hier das Gefühl des inneren Getrenntseins von anderen, von sozialen Beziehungen und Benötigtwerden, vom eigenen Ich-Ideal oder von subjektiv bedeutsamen Sinnbezügen; letztlich verweist diese Selbstkonstruktion auf einer ganz persönlichen Ebene auf ein gestörtes Selbst- und Weltempfinden – aber eben auch ganz real auf ein gesellschaftlich höchst relevantes Thema.

Das Risiko an Altersdemenz zu erkranken ist bei einsamen Menschen doppelt so hoch, die Zahl der Suchtkranken Senioren steigt (1,7-2,8 Millionen Menschen nehmen mehr Medikamente als gesund ist, fast 30 % trinken zu viel Alkohol oder kaufen über Telesh0pping Zeug, das sie nicht brauchen), zudem ist die Sterblichkeit vergleichbar stark – über Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel – erhöht, ebenso wie Erschöpfung und Depression in dieser Gruppe deutlich zunehmen.

wolkenverhangener Himmel

Der Psychiater Prof. M. Spitzer hält Einsamkeit gar für die Todesursache Nummer ein in westlichen Ländern, da die moderne Lebensform eine dauerhafte Vereinzelung und Vereinsamung mit sich bringen (die Zahl der Großfamilien nimmt ab, die Scheidungsraten, ebenso wie Kinderlosigkeit, gehen hoch, ebenso wie die Anzahl der Singel-Haushalte – zB. bei 75jährigen sind es 52 %).
Auch die Langlebigkeit ist eine wichtige demographische Größe geworden: 1980 gab es 1,53 Mio. 80jährige, 2025 werden es 4,63 Mio. sein.
Hinzu kommt ein Ethos von Jugendlichkeit und Originalität (Einzigartigkeit); was Autonomie, Multioptionalität (vieles, „alles“ ist möglich), Enttraditionalisierung (mit Orientierungslosigkeit einhergehend) und Performanz (die Leistung) beinhaltet. Alter hingegen gilt als begrenzt, unproduktiv und sinnlos – was die Gefahr beinhaltet, sich diese Werthaltung zu Herzen zu nehmen, sich zu eigen zu machen, statt kritisch zu hinterfragen und persönliche Kompetenzen zu nutzen und soziale Ressourcen aktiv zu gestalten.

Aus psychologischer Perspektive ist es sicherlich so, dass Menschen mit zunehmendem Alter intensiver mit der Endlichkeit ihres persönlichen Daseins konfrontiert sind. Zudem müssen reale Verlusten von nahestehenden Personen oder gesellschaftlichen Aufgaben und eigener körperlicher Abbau bewältigt werden … was auch immer mit Korrekturen der bislang wie selbstverständlich geltenden Vorstellung vom eigenen Ich und seinem Sein in der Welt verbunden ist.
Gefühle von Angst und Hilflosigkeit diesem Schicksal gegenüber lösen darüber hinaus kindliche Erinnerungen und Gefühle des Verlassenwerdens, der Scham über das Angewiesensein oder auch die Vorstellung, zu Scheitern, und Schuldgefühle aus. Ausgleichende Formen von Zärtlichkeit und Zuwendung fehlen oft.

Im Alter kann der Mensch, der sich einsam fühlt und sich um sein Selbst und seine Versorgung sorgt, zu sich kommen und annehmen, wie es ist.
Insofern könnte man die späte Lebensphase als ein „Werden zu sich selbst“ verstehen.
Schön, wenn es gelingt, im Alleinsein (auch: all eins sein – im Gegensatz zu Einsam sein) die vielen Beziehungen, die stattgefunden und prägend wirksam waren, innerlich lebendig zu halten und zugleich die Endlichkeit, Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens anzuerkennen.
Dann kann sich das herausbilden, was allgemein als Altersweisheit bezeichnet wird: Erfüllung, die Überwindung des Getrenntseins ist Resultat eigener intellektueller und moralischer Leistung, eine Befreiung von vermeintlichen Zwängen zur Selbstrechtfertigung, zur Selbstdarstellung, offen für Dankbarkeit und Würdigung.
Ob dazu ein Gott als Gegenüber und Schöpfer für wichtig gehalten wird, mag jeder selbst entscheiden. Auf jeden Fall braucht jeder und gerade einsame Menschen – in jedem Alter -, reale körperliche Zuwendung, Berührung und soziale Kontakte. Denn Einsamkeit zieht Kreise und mehrt sich.
Daher ist wichtig, zu sehen, dass der Mensch am Du zum Ich wird, wie Martin Buber es sagte.
Gerade wenn wir bedenken, das sich psychische Funktionen bei Kindern erst nach und nach im Kontakt mit der gegebenen Umwelt aufbauen und das Gehirn als solches mit der Zeit verändern.
Viele Gewohnheiten helfen, den Alltag zu bewältigen, aber je älter wir werden, um so deutlicher überwiegen grundlegende Erfahrungen die später erworbenen Fähigkeiten.
Hier greifen dann durchaus christliche Werte wie Nächstenliebe, egal ob Geschwister oder Freunde, Kollegen (die im Alter weniger werden), Kinder, Enkel, Nachbarn oder auch bezahlte Helfer.
In dieser Mit-Einsamkeit ist Einsamkeit dann weniger eine Handlung, als vielmehr eine Haltung, die hilft, die eigene Hinfälligkeit zu akzeptieren.
Wie schon zuvor im Leben macht es wenig Sinn, im Gegeneinander stecken zu bleiben; es ist spätestens jetzt Zeit mitzugehen.


„Einsam ist, wer die Schönheit zu erleben und vor ihr zu sagen weiß. Es ist die Einsamkeit der Berufenen, er darf die Kinderwelt und das Kinderleben der anderen nicht teilen. Dafür hört er die Stimmen, die jene nie hören. Und außerdem gibt es für seine Einsamkeit, wie für jede, die Lösung und Erlösung: das Erkennen des Einen und Ganzen hinter allen Vereinzelungen.“ Hermann Hesse, Brief 1947

Quelle für Daten und Anregung zum Artikel: Theologisches Seminar Herborn, Alterseinsamkeit – Konvolut eines theologischen Annäherungsversuchs für die Prüfung im Fach Theologische Gegenwartsfragen, 2018, Christin Neugeborn
– wobei ich (Autor Dr. Alfons Lindemann) so manche theologische These nicht übernommen habe, da auch anders auslegbar.
Fotos: Lindemann

Literaturliste zur Neugebauer-Arbeit

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