Wieviel Hölle erträgt das Paradies?

dieses Bild aus dem Beitrag übernommen, die Veröffentlichung von Medico international zugestanden

Selten waren Dystropie und Utopie so nahe beisammen wie in diesen pandemischen Zeiten.

Wo sind wir? Im Paradies? In der Hölle? Irgendwo dazwischen?
Näher am Paradies oder näher an der Hölle?
Und wie war unser Befinden vor der Pandemie?
Paradiesisch? oder infernalisch? Oder beides zugleich, als ob “ Hochzeits- und Beerdigungsglocken sich vermischt hätten“ (Robert Schumann).
Und wen umfasst dieses wir?
Existiert es überhaupt noch?
Kann es eine Gemeinschaft, die diese Bezeichnung verdient, überhaupt geben, wenn schon die zarteste Geste von Fürsorge, das Tragen einer Maske zum Schutz der Mitmenschen, für Spaltung sorgt?
Wie nachhaltig sind die zaghaften Blüten der Solidarität, über die wir uns im ersten Lockdown noch gefreut haben, in einer Gesellschaft, die aus der Summe ihrer Einsamkeiten besteht?

Wer dieser Tage über Zukunft spricht, tut dies aufgrund einseitiger Annahmen:
Entweder sind wir – zwischenmenschlich – aus dem Gelobten Land vertrieben worden, oder aber unser Wohlergehen war zuvor schon eine Fata Morgana, die sich nun endgültig in Luft aufgelöst hat.
Entweder war die vorpandemische Lage geprägt von einer stabilen, zufriedenstellenden Normalität, die nun zwar zerstört worden ist, zu der wir jedoch zurückfinden könnten, oder aber lebten wir auch davor in zerrütteten und teilweise dysfunktionalen Verhältnissen.

Die Reaktion auf die brüchige Gegenwart hängt von dieser grundsätzlichen Haltung ab.

Während manche als Folge der Pandemie Schlimmes, gar Apokalyptisches, befürchten, schöpfen andere Hoffnung, weil diese Krise den Blick auf notwendige Veränderungen lenkt, indem sie die essentielle Krisenhaftigkeit des Status quo offenlegt.
Selten waren Dystropie und Utopie so nahe beieinander.
Und bei vielen Menschen vermischen sich Befürchtungen und Sehnsüchte zu einem konträren Cocktail.

Der Philosoph Jean Baudrillard hat unsere Situation schon vor mehr als drei Jahrzehnten mit visionärem Weitblick auf den Punkt gebracht: „Als wir keine Mittel hatten, sagten wir, der Zweck heiligt die Mittel. Als wir keinen Zweck hatten, sagten wir, die Mittel heiligen den Zweck. Unmoralisch ist, dass es keinen Widerspruch mehr zwischen beiden gibt: Zweck und Mittel sind einander gleich geworden.“
Wenn wir „Mittel“ durch „Leben“ ersetzen und „Zweck“ mit „Wachstum“, erkennen wir sofort, was Baudrillard meint.
In der herrschenden Ökonomie ist das eine mit dem anderen ident.
Wir wachsen, um zu leben, und leben, um zu wachsen, wir haben das Wachsen (anders gesagt: das Optimieren) verinnerlicht, wir sind als Individuen Frankenstein´sche Kreaturen eines Systems, das nur noch eine Richtung (hin zum Größeren), nur noch ein Tempo (die exponentielle Beschleunigung) und nur noch einen Vektor (zunehmende Konzentration an Macht und Vermögen) kennt.
Wir wissen, dass das, was sich heutzutage Wohlstand nennt, auf einem noch nie dagewesenen Raubbau basiert. Die ökologischen Zerstörungen wie auch das extreme Anwachsen von Ungleichheit sind umfassen analysiert und dokumentiert.
Die Negativtendenzen sind weitestgehend anerkannt.
Und doch halten viele Menschen das System tagsüber für stabil, um sich nächtens in ihren Alpträumen zu wälzen.

Das real existierende Schlaraffenland unserer bürgerlichen europäischen Existenz (zugegeben, ich verall-gemeinere) verfügt momentan über einen halbwegs vollen Kühlschrank.
Also erliegen wir dem Zauber eines reich gedeckten Tisches, ohne uns große Gedanken zu machen über die wahren Kosten und die langfristigen Aussichten.
Jene hingegen, die über die Versorgung des Kühlschranks ehrlich Buch führen und Inventar erstellen, malen das kommende Unglück an die Kühlschranktür.
Darin besteht die Wirrnis unserer Zeit: An der Tür des Kühlschranks prangt das realistische Bild eines Weltuntergangs. Und weil die Vision die Hölle inmitten von Schlaraffenland als eine Wahnvorstellung erscheint, schenken wir ihr keinen Glauben.

Diese essentielle Widersprüchlichkeit bestimmt auch unsere Haltung zu Epidemien.
Wir trösten uns damit, dass es solche seit je schon gegeben hat.
Dabei haben wir allein in unserem noch jungen Jahrhundert global eine Explosion von viralen Plagen erlitten: SARS, die Vogelgrippe, MERS, die Schweinegrippe, Ebola, Hendra, Nipah und nun Covid-19.
Laut Fachleuten ist es sehr wahrscheinlich, dass Pandemien zukünftig noch zunehmen werden und eines Tages ein extrem infektiöses Virus Hunderte Millionen Menschen töten könnte.

Wie bereiten wir uns auf derart existentiellen Bedrohungen vor?
Gehen wir mögliche Ursachen konsequent an?
Oder begnügen wir uns mit Maßnahmen zur Eindämmung und pharmazeutischen Neutralisierung der Virusinfektion?

Wie wäre es, wenn wir über die strukturellen Ursachen nachdenken, die dazu führen, dass lokale Krankheitserreger zu globalen zivilisatorischen Bedrohungen werden?
Siehe da, es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen unserer effizienten Vereinnahmung des Planeten und dem Auftreten von Pandemien. Wie die Zeitschrift >Scientific American< schon im März 2020 schrieb:
„Destroyed Habitat Creates the Perfect Conditions for Coronavirus to Emerge“.
(zerstörte Lebensräume schaffen perfekte Bedingungen für die Entstehung eines Coronavirus)
Denn unser Agrarsystem, das quantitativ betrachtet Wunder vollbracht hat, ist durchfurcht von Bruchstellen. Es basiert auf Monokuluren, auf industriell hergestellten Düngemitteln und Pestiziden, auf antibiotischen Futterzusätzen und auf umweltschädlichem Massentransport. Zudem führt die Zerstörung von Regenwäldern und die Trockenlegung von Sümpfen dazu, das Krankheitserreger aus ihren jeweiligen Ökosystemen freigesetzt werden – wer etwa durch Guatemala oder Borneo fährt, erhält schockierende Anschauung, wie die Monokulturen des Palmöls sich in die Biosphäre von Fledermäusen und Affen hineinfressen.

Die Agrarindustrie ernährt uns, indem sie unsere Umwelt zerstört. Sie ist nicht nur für etwas ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, sie gefährdet zunehmend die Gesundheit von uns allen.
Eine durchschnittliche mitteleuropäische Legehenne erhält während ihrer 16wöchigen Aufzucht sage und schreibe 18 Schutzimpfungen. Während unsereiner sich noch eine Grippeimpfung überlegt, verzehrt er eine leckere Hühnerbrust, die mit mehr Pharmaka vollgepumpt ist als der Körper eines Radrennfahrers.
Obwohl die Vogelgrippe und die Schweinpest schon mehrmals massiv Hühner- und Schweinefarmen befallen haben, ist in der Folge kaum etwas gegen die Missstände unternommen worden.

Wer mit pandemisch geschärften Blick die Nachrichten der letzten Jahre Revue passieren lässt, kann nur staunen über die vielen Seuchenfälle vergangener Jahre.
Nach jeder Epidemie herrscht Erleichterung vor, dass Schlimmste vermieden zu haben, die alltägliche Ausbeutung wird fortgesetzt. Trotz alledem, das Paradies der gesicherten Normalität wird sich wieder einstellen, wir werden auch diese Katastrophe überstehen.

Zwar gibt es auch im globalen Norden einen wachsenden Widerstand, aber er ist noch viel zu schwach, um das System, das unsere Zukunft auffrisst, ernsthaft zu gefährden.

Wieso bleibt ein profundes Umdenken aus?
Wie schon zu Beginn angedeutet, leben wir mit einem Bein im Paradies und mit dem anderen in der Hölle – das wirkt sich negativ auch auf das Gemeinschaftliche aus. Die Atomisierung der Gesellschaft ist so weit vorangeschritten, dass ein „Wir“ nur noch in Form von Familiennamen auf dem Klingelschild von Eigentums-wohnungen aufscheint.

Die Folge: politische Apathie und soziale Vereinsamung.

Die Pandemie stellt Entwicklungen in Frage, die sie zuspitzt.
Der Lockdown ist der Tiefpunkt einer seit Jahrzehnten voranschreitenden gesellschaftlichen Auflösung.
Zugleich erkennen wir klarer die Notwendigkeit des gemeinsamen Agierens, weil bei einer Infektion die Erkrankung Einzelner zugleich eine Bedrohung für alle darstellt.
Das müsst selbst den größten Egoistinnen und Egoisten einleuchten (auch wenn manche Masken-verweigernde dieser Einsicht sichtbar widersprechen).
Selbst wenn wir Empathie und Ethik außen vor lassen, müssten wir Gesundheit als oberstes Gebot definieren. Und schon wird ein solidarischer Hoffnungsschimmer sichtbar in unserer von Konkurrent*innen und Konsument*innen bevölkerten Welt.

Quelle: Die ungehaltene Rede von Ilija Trojanow (in ganzer Länge: www.medico.de/wie-viel-hoelle)
sollte im November 2020 zur dann ausgefallenen Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Buch Basel gehalten werden. Die hier abgedruckte gekürzte Version stammt aus dem Rundschreiben 04/20 von Medico international – ISSN 0949-0876 – mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Der Schriftsteller IlljaTrojanow ist Mitglied im Kuratorium der Stiftung medico international.

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