Digitales Milchbänkchen geht weiter

so titelte der Gießener Anzeiger am 03.08.2022, aber wieso?

Milchbänkchen früher; Foto: Schwatz am Milchbänkchen
„modernes“ Digitales Milchbänkchen

Die große Verwirrung ist doch, dass hier echter sozialer Kontakt mit medialem Kontakt gleichgesetzt wird.
Realer Austausch zwischen Menschen kann aber niemals durch die Zwischenschaltung eines Mediums ersetzt werden.
Hoch fragwürdig ist auch, dass für die DorfApp enorme Summen an Geld (bislang über 250.000 €) für Programmierung und Support ausgeben worden sind und weiter ausgegeben werden sollen, während viele derartige Angebote bereits existieren und genutzt werden und weil vor allem guter Austausch immer kostenfrei ist.

Aber, so wie im Bild vom Milchbänkchen früher stellt sich unsere Landrätin Anita Schneider anscheinend die Fähigkeiten der von ihr vor rund zwei Jahren auf den Weg gebrachte Dorf App des Landkreises Gießen vor.
Der alltägliche Tratsch, aktuelle Nachrichten, Informationen und mehr sollten ganz modern auf digitale Art in den Dörfern ausgetauscht werden, »Vernetzt, wo man verwurzelt ist«, lautet das Motto.
Vernetzung geschieht jedoch a) freiwillig und b) nur dort, wo Interesse mit Sympathie und Bekanntschaft zusammen kommen.

Bei uns in Biebertal waren es Königsberg und vier andere Orte (Dornholzhausen, Harbach, Oppenrod und Treis) in dennen Bürger/innen während einer ersten Pilotphase die App über das Smartphone herunterladen konnten, um damit Teil einer »digitalen Dorfgemeinschaft« zu werden. Jeweils zehn Personen aus jedem der fünf Orte durften die DorfApp ausgiebig testen. Nun aber ist diese Pilotphase beendet.

Rechtfertigt ein nachgewiesener Nutzen die aufgewendeten Kosten?

Für das Floppen der DorfApp-Idee sprechen nicht nur die Rückmeldungen der meisten Ortvorsteher der Gemeinden des Pilotprojektes, sondern auch die leeren Sitzreihen bei der Veranstaltung in Treis, wo Tester der App mit Vertretern des Landkreises und der Entwicklerfirma „Fabrik 19“ die ersten Erfahrungen austauschen sollten.
Der Treiser Ortsvorsteher Andreas Becker meint, die sei durchdacht und auch leicht zu handhaben, aber mittlerweile sei das Interesse der Bürger/innen an der App »eingeschlafen«. Auch Bürgermeister Peter Gefeller aus Staufenberg hegt Zweifel, ob die Stadt Geld zuschießen werde. Die Ortsvorsteherin Claire Blaschke verwies auf eine Facebook-Gruppe für Oppenrod und darauf, dass das Busecker Blättchen inzwischen kostenlos – auch als App – an alle Haushalte gehe und alle Termine beinhalte. Rückmeldungen zur Nicht-Nutzung der Dorf-App habe sie auch im Ortsbeirat bekommen. Ebenso in Dornholzhäusen, so berichtete der Ortsvorsteher, seien weder Dorf-Chat, Marktplatz, noch Wetter-App gut angekommen oder in Anspruch genommen worden. In Biebertal-Königsberg wurde die Dorf-App im Zuge der Gründung eines Dorfladens, laut der stellvertretenden Ortsvorsteherin Elke Lepper aktuell mehr genutzt. Frau Lepper würde es begrüßen, wenn noch einmal verstärkt Werbung für die Dorf-App gemacht würde. So spricht auch dieser Hinweis dafür, dass auch in Königsberg beschönigend Stellung genommen wurde. Lediglich Oliver Schäfer, der Harbacher Ortsvorsteher sieht die App als gute Plattform für Vereine. die allerdings durch Corona anfänglich stark ausgebremst worden sei. »Außer Absagen von Veranstaltungen hätte man ja kaum etwas reinstellen können«. Bei Ihnen stoße die Dorf-Chat-Funktion auf positive Resonanz. Harbachern für Harbacher, das mache für ihn Sinn und stiftee mehr Gemeinsamkeit als etwa eine Gruppe bei WhatsApp, glaubt er – aufgrund von was?

Norman Best, der das Projekt für den Landkreis leitet, führt den schleppenden Start auf Corona zurück. Trotzdem sehe er die Dorfgemeinschaft nach wie vor als „Motor des Projekts“ – auf Grundlage von …?
Wieder einmal wird von Seiten der Obrigkeit (in wessen Interesse? -Eigeninteresse oder Gemeinwohl?) die geringe Annahme der App mit der Corona-Pandemie entschuldigt. Aber warum z.B. funktioniert der Biebertaler-Bilderbogen, der parallel vor 3 Jahren entstanden ist, mit zunehmender Leserzahl – ohne dass wir Werbung schalten oder Geld für das Projekt in die Hand nehmen?

Trotz alledem wurde von Seiten des Landkreises verkündet, dass es die App »Digitales Dorfleben« weiterhin geben werde.

Also fragen wir: Auf auf welcher Grundlage wird diese Entscheidung getroffen?
Das blieb in den Verlautbarungen unklar; in der Zeitung wurde nur die Äußerung von Frau Schneider berichtet, dass viele die Möglichkeit wahrgenommen hätten und die App heruntergeladen und genutzt hätten. Das zeige, dass es den engagierten Dorfgemeinschaften gelungen sei, sich digital miteinander zu vernetzen.
Aber, wie viele? und wo) – heruntergeladen oder genutzt?
Wer kontrolliert die Wirksamkeit, die Nutzung der DorfApp?
Wo sind Zahlen öffentlich, wie bei anderen Medien?

Die Aussagen von Frau Schneider entsprechen lediglich den schon zu Beginn des Projektes geglaubten Wirkungen der App – von denen wir (das Team vom Biebertaler-Bilderbogen.de = Biebertal-online.de) nicht glauben, dass sie zutreffend sind.
Schon 2020, als öffentlich wurde, dass diese App kommerziell betrieben wird und allein für das Pilotprojekt 254.300,- Euro ausgegeben und aus dem Leader-Programm eine Stelle für einen Koordinator geschaffen werden, hatten wir Frau Schneider aufgesucht und unsere Bedenken geäußert. Denn: weder kann Interesse und Bürgerengagement von oben verordnet werden, noch hielten wir angesichts der bereits bestehenden Vernetzungen via WhatsApp, Facebook-Gruppen usw. einen derartigen Mitteleinsatz für überflüssig. Zudem wiesen wir darauf hin, dass es in Biebertal bereits ein ähnliches, sehr vielfältigeres digitales Informations- und Kommunikationsangebot gibt, das Bürger/innen ihren Mitbürger/innen kostenlos zur Verfügung stellen – mit all den für die DorfApp geplanten, gewünschten Funktionen. Davon aber wollte die Landrätin nichts wissen.
So wird bürgerliches Engagement in einer Gemeinde, das inhaltlich und kostenfrei für die Steuerzahler/innen hätte weitergegeben werden können, mit Füßen getreten. Statt Zutrauen in bottom up-Wegen zu setzen, die vollkommen in der Hand der Bürger liegt, werden mit der Dorf-App Abhängigkeiten von Firmen generiert.
Wir haben das beim Biebertaler Mitmach-TV erlebt, wo Bürger/innen Zulieferer (Wasserträger) sein dürfen, während die Technik in der Hand der THM liegt und damit nicht von den Mitmachern bedürfnisgerecht mitgestaltet werden kann – da Ausbildungsgegenstand und kein echtes Bürgerprojekt – ebenfalls top down organisiert und jede Woche intensiv im offiziellen gemeindlichen Nachrichtenblatt beworben.

Wichtiges Argument von offizieller Seite, die wissenschaftliche Begleitung des Projektes durch den Wirtschaftsgeografen Professor Stefan Hennemann vom Institut für Geografie an der Justus-Liebig-Universität begleitet. Zudem seien als technischer Partner die Stadtwerke Gießen mit im Boot und das Gießener Unternehmen Fabrik 19 AG, das die App entwickelt – und dass wohl auch Inhaber der Rechte bleibt?
So ist es anzunehmen, auch wenn der Landkreis Gießen »stiller« Betreiber der App bleibt, dass die Gemeinden, die die App nutzen wollen, in Zukunft für Lizenzen zahlen sollen: einmalig 2.500,- € und dann jährlich 3.000,- €, wenn die angebotene Standard-App es Landkreises in der bislang entwickelten Form genutzt wird. Für ortseigene Entwicklungen wären dann weitere ab 10.000,- € fällig.
Schließlich müssen Firmen Profit machen und ihre Mitarbeiter bezahlen, während Bürger/innen in Eigenregie mit ihrer Freude am Tun und am Miteinander entlohnt sind.
Folgerichtig erklärt Uwe Happel, Leiter der Stabsstelle Kreisentwicklung und Strukturförderung beim Landkreis Gießen, dass es besonders erfreulich wäre, wenn jetzt möglichst viele Kommunen mitmachen würden.

Sabine Köhler-Lindig, Produktmanagerin bei Fabrik 19, betont, dass die App in einem stetigen Prozess verbessert werde. Die Ausführung für die Kommunen entstehe gemeinsam mit diesen Kommunen (wer ist denn damit bezeichnet?). »Das ist ein Prozess, der von der Bürgern mitgetragen wird.« So entstünden individuelle Lösungen, die aber auch Teile der ursprünglichen Dorf App enthielten.
Was aber bitte können die Bürger/innen an der App denn tatsächlich selbst gestalten? Ideen kosten bei der aktuellen Konstruktion des Modells Geld!
Zwar werde der Landkreis auch künftig, so steht es im Presseartikel, als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und bei Aufbau und Betrieb unterstützen, aber wer zahlt die Zeche? Fördermittel hin oder her, auch wenn sie vom Leader-Programm der Europäischen Union kommen, sind es doch letzten Endes immer Steuermittel, die ausgegeben werden.

Mehr lesen Sie auch unter „Was ist die Dorf-App?“

Foto vom traditionellen Milchbänkchen: Foto: Schwatz am Milchbänkchen; vom modernen Milchbänkchen: Lindemann

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